“NIEMAND MAG EINE ERBSENZÄHLERIN!”

 

Mädchen mit Lupe, pexels.com, MART PRODUCTION
Diesen “Ehrentitel” hat sich Laura Arndt (MINT-Bildung) mit vielen gesprengten Gesprächen hart erarbeitet. Sie achtet ständig auf Kleinigkeiten, geht Menschen damit auf die Nerven und sagt: Wir bräuchten noch mehr Erbsenzähler: innen!

Laut Wikipedia ist ein: Erbsenzähler:in “ironisch abwertend einen auf größte Genauigkeit und Vollständigkeit bedachten Menschen”. Klingt nicht sympathisch. Aber in Zeiten steigender Unsicherheit wird Genauigkeit immer wichtiger. Wenn jemand schreit “Die Freiheit des Menschen ist unantastbar!” applaudiere ich der kleinlichen Person, die “… die Würde!” zurück schreit. Ein Wort – eine ganz andere Bedeutung und Korrektheit. Da wird so ein Erbsenzähler doch gleich sympathischer.

Ein Herz für Erbsenzähler:innen!

Aber auch in den Untiefen von Social Media sind aktive Erbsenzähler:innen essenziell: In den von Algorithmen-bestimmten Bubbles werden Inhalte angezeigt, die meiner persönlichen Meinung entsprechen. Hier vermischen sich Meinung und vermeintliche “Fakten” untrennbar und vermitteln mir ein Bild, dass alle Welt meiner Meinung ist. Gefördert wird das Ganze dann noch dadurch, dass sich User:innen gegenseitig bestätigen, bei einem kritischen Kommentar erfolgt nicht selten ein emotionaler Shitstorm. Und hier kommt die Spezies “Erbsenzähler:in” ins Spiel – Kontra geben, Korrekturkeule schwingen und den Shitstorm abprallen lassen. Heutzutage gar nicht so einfach… Daher brauchen wir “Ein Herz für Erbsenzähler:innen”.

Eine Frage der Haltung

Wer mich als MINTlerin kennt, wird sich nicht wundern, dass ich prädestiniert bin für das Erbsenzählertum. Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik sind schließlich bekannt für Präzision und Klarheit. Kein Wunder, dass durch meine Liebe zu Naturwissenschaften meine kleinliche Haltung genährt wurde – oder vielleicht hat mich diese Haltung auch zu den Naturwissenschaften geführt. Wie es letztendlich ist, vermag ich nicht zu sagen – und das unterscheidet mich von einer Klugscheißerin. Ich weiß nicht alles (besser) und bei diesen Grenzen bin ich auch kleinlich – was ich nicht weiß wird nicht durch meine Meinung zum Fakt.

Das Ganze liest sich nun wie ein Loblied auf mich: Aber ich stehe stellvertretend für all die Forschenden, Wissenschaftskommunizierenden, all die Personen, die auf Genauigkeit achten und bestehen, ob privat oder beruflich. Sie sind durch diese Haltung nicht sonderlich beliebt. Sie nerven ihr Umfeld, müssen alles ausdiskutieren, vermitteln einem das Gefühl, belehrt zu werden. Gleichzeitig aber setzen sie sich ein, dass Kommunikation, Meinungsbildung und Entscheidungsfindung auf dem berühmten “Boden der Tatsachen” stattfinden. Und dass wir gesellschaftlich diese Genauigkeit und Nüchternheit benötigen, zeigt sich spätestens seit der Coronapandemie mitsamt ihren Konsequenzen.

“Du weißt doch, was ich meine!”

Wer sich zu etwas mehr Kleinlichkeit motiviert fühlt, wird sehr schnell die automatisch eintretende Reaktion “Ach Mensch, du weißt doch, was ich meine!” kennenlernen. Eine geschmetterte Entgegnung, die Erbsenzähler:innen nur noch mehr zur Kleinlichkeit motivieren sollte:

Ersten darf man nicht selbstverständlich davon ausgehen, dass das Gesagte und das Verstandene identisch sind. Hinter einem einzigen Wort stehen so viele Bedeutungen: Wenn ich über die Würde spreche, könnte die Bedeutung “Freiheit” oder “Souveränität” verstanden werden. Diese persönliche Bedeutung konstruieren wir natürlich auf Basis des Gesagten, allerdings im Rahmen unseres Werte- und Erfahrungshorizonts. Wissen ist schließlich kein wortwörtliches Gut, das weitergegeben wird, sondern viel mehr eine Reihe von Impulsen, die zur Rekonstruktion unseres Verständnisses und Weltbildes führen. Das individuelle Vorwissen spielt also eine große Rolle bei der Art und Weise des Verstehens.

Zweitens ist das individuelle Vorwissen entscheidend. Hinter Wortbedeutungen können sich zugleich unterschiedliche grundlegende Mechanismen und Gesetzmäßigkeiten sowie Ursachenzuschreibungen verbergen. Beispielsweise kann sich hinter der Vorstellung von “Evolution” sowohl ein nicht zielgerichteter Mechanismus als auch ein diffuser, absichtsvoll lenkender “Ingenieur” verbergen. Hat der Mensch das Merkmal des aufrechten Ganges entwickelt, um weiter schauen und die Hände frei zu haben, oder ist dieses Merkmal zufällig und ohne jegliche Absicht aufgetreten und hat seine Funktionen und zugewonnene Vorteile im Nachhinein durchgesetzt? Zwei unterschiedliche Erklärungen, wobei sich erstere als vermenschlichte Ursachenzuschreibung und nicht wissenschaftlich-korrekte Erklärung entpuppt. Allerdings ist sie als gut funktionierende und greifbarere Erklärung sehr attraktiv und weitverbreitet. Frage ich also “Was meinst du denn?”, könnten interessante Grundsatzdebatten entstehen.

Drittens führen solche in der (naturwissenschaftsdidaktischen) Bildungsforschung häufig untersuchte “Alltagsvorstellungen” dazu, dass fälschlicher Weise beispielsweise Daseinsberechtigungen interpretiert werden. Das kennen wir schon aus dem Sozialdarwinismus und wir wissen: Es ging nicht gut aus. Selbstverständlich führt nicht jede unschuldige Alltagsvorstellung zu verzerrten Weltbildern – aber sie unterstützen sie. Zumal diese Alltagsvorstellungen zwar meistens gut funktionieren, aber dort, wo sie nicht funktionieren eine große Unsicherheit hinterlassen. Und Unsicherheit hat natürlich vor allem emotionale Konsequenzen, das sehen wir auf Social Media wie auf der Straße.

Daher zählt nicht nur die Frage der Haltung, sondern ebenfalls die der Etikette.

Kleinlichkeits-Etikette

Es geht nicht nur darum, was man sagt, sondern auch, wie man es sagt. Wer sich herabgesetzt und nicht ernstgenommen fühlt, macht verständlicherweise schon dicht, bevor überhaupt eine Information ankommt. Überhaupt sind solche Gespräche häufig emotionsgeladen und wertungsreich. Meine Erfahrung ist, dass ein Gespräch, das sachlich-konstruktiv auf Augenhöhe stattfindet, entschärft ist und für beide Seiten persönliche Mehrwerte bringt. Offenheit, Empathie und ein bisschen Fingerspitzengefühl tun ihr Übriges. Und damit ich nicht wie die Oberlehrerin wirke, kommuniziere ich direkt meine Motivation zur Kleinlichkeit gleich mit: Eine Basis zu schaffen, auf der ein Gespräch konstruktiv und zum beidseitigen Nutzen geführt wird – nicht zur Belehrung sondern zur gemeinsamen Weiterentwicklung. Daher plädiere ich für mehr Kleinlichkeit und Erbsenzählertum.

Und wo wir schon bei Etikette sind: Habt ihr eine Idee, wie man den Erbsenzähler:innen einen positiven Spin geben könnte? Kennt ihr andere, genauere Bezeichnungen?

Laura Arndt
Laura Arndt

Laura ist seit Januar 2018 im Team von TRANSFER TOGETHER und arbeitet für das Teilprojekt MINT-Bildung auch mal in einem Eisfach-Labor, wo zwar wärmeempfindliche Chemikalien geschont werden – die Laborantin aber nicht. Zu Lauras Projektseite.

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Comments (2)

Liebe Laura, das gefällt mir.

Liebe Lissy,
freut mich sehr! Du weißt genau, was ich meine 😉

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